Ein Leben im Zwiespalt: "Tolstoi in der Nacht" im Kaffehaus Hagen

Heilbronner Stimme, 22. Februar 2010

von Uwe Deecke


Sie kommt rechtzeitig zum neuen Hollywood-Drama "Ein russischer Sommer" mit der britischen Oscar-Preisträgerin Helen Mirren: "Tolstoi in der Nacht" ist die neue Inszenierung von Nicolas Kemmer im Kaffeehaus Hagen mit Cornelia Bielefeldt als aufopfernde Gattin eines untreuen Tyrannen.
Womöglich kommt dieses Stück von Pascale Rozo der Wirklichkeit näher als die Filmproduktion, wo ein versonnener Tolstoi durch den schönen Park schlendert. Im Kammerspiel kommt der russische Volksheld alles andere als gut weg, wenn seine Frau Sophia, Tochter eines deutschen Arztes, ihr Tagebuch schreibt. Er missachtet sie, er verleumdet sie, er straft sie mit Schweigen und betrügt sie, noch dazu mit einer Bäuerin, zu der er nächtens mit dem Pferd aufbricht. Um eine solche Nacht geht es in dem Monogramm, eine Nacht, in der Sofja wach bleibt, verzweifelt, an Selbstmord denkt und ihren Gatten verflucht. Doch sie liebt ihn auch abgöttisch, eine Ambivalenz wie sie quälender kaum sein könnte.
Fast 50 Jahre ist sie verheiratet mit dem Volkshelden, 16 Mal wird sie schwanger und sie gebärt ihm 13 Kinder, nachdem sie ihn früh geheiratet hat. Doch wie hat er sich verändert? Zum Despoten und Ehebrecher wird er, wendet sich auch noch vom Christentum ab und predigt seit Tagen ungewaschen und stinkend seine neuen Botschaften. Sie erträgt einfach alles, meistert Haushalt und Kinder und kümmert sich noch dazu um das Verlegen seiner Werke.
Zwischen Schicksalsergebenheit und Verzweiflung lebt diese Sofja, mitten im Geschlechterkampf mit einem unberechenbaren Tyrannen. Cornelia Bielefeldt spielt diese Frau nuanciert und mit Bravour, Nicolas Kemmer begleitet sie mit Stücken von Vivaldi und Chopin am Flügel. Nach langem Applaus des Publikums kommt sie noch einmal auf die Bühne, freut sich, dass auch ein solcher Stoff ankommt und hat noch einen Tipp parat: "Und jetzt können Sie ins Kino gehen."